April 16, 2024

Vitalistischer Aktivismus – Geisteshaltung der Macht?


Der Vitalismus war eine bedeutende Tendenz, vor allem in der deutschen und skandinavischen Kunst. Eine materialistische Begründung für sein Auftreten findet sich in der ausgiebigen archäologischen Arbeit des 19. Jahrhunderts durch Liebhaber der klassischen, abendländischen Antike wie Heinrich Schliemann. Die abgebildeten Szenen sind umgeben von Orten der Schönheit: See, Sonne, Strand und Naturlandschaften. Im Gegensatz zur (Schwarz-)Romantik gibt es hier eine starke Abkehr von der Melancholie, durch eine hellere Farbpalette zum Ausdruck gebracht. Der Vitalismus konzentriert sich auf die Themen Gesundheit, Schönheit, Sportliche Aktivität, Nacktheit und Jugend (vor allem
junge Männer). Sein Auftreten ist dementsprechend: Hart, fast bis zur Grausamkeit.


„Wahre Schönheit ist etwas, das angreift, überwältigt, beraubt und schließlich zerstört.“
(Mishima)

“Repräsentation bekommen.”


Es ist der Anblick eines schönen Menschen, der jemand den Stich ins Herz und vielleicht auch ins Gedächtnis gibt. Es ist die Grundlage für das gewaltige Ressentiment der neueren, lipophilen und gerontokratischen Kultur, die ein gigantisches Speck-Takel der politischen Umwerbung errichten muss, nur um nicht der wahren Schönheit ausgesetzt zu sein. Es ist der Gegensatz zu politisch korrekten Modelagenturen, die sich keinem Ideal außer der Befriedigung der Hässlicheren verpflichtet fühlen. Die vitalistische Kunst der Moderne bleibt stark inspiriert von der Klassik und ihren Idealen. Die Heroen und Sieger des Agon mit ihren starken gesunden Körpern dürfen abgebildet und verewigt werden, oder wie ein Heutiger sagen würde:


Zwei doppelte Passiva in dieser Formulierung, man merkt, sie ist zeitgemäß. Der Agon, der griechische Wettkampf und dessen Mentalität führen uns in die zweite Ebene dieser Geisteshaltung. Das Neue Leben und seine Lehre. Im beginnenden 20. Jahrhundert kam es zur Wiederbelebung der Olympischen Spiele, dem Zentrum des Lebens in der antiken Welt. Diese antike Welt könnte einen Pfad in die Zukunft weisen. Bemühungen zur generellen Wiederbelebung der Antike gab es seit der Renaissance und im deutschen Sprach- und Lebensraum im Deutschen Hellenismus, vor allem in den Gebieten der Literatur und Philologie. Die Zersetzung der alten Quellen der Autoritäten hatte die Suche nach neuen Richtlinien und Direktiven zur Folge. Wie soll ich leben? Auf diese Frage versuchten verschiedene Programme einer Lebensreform eine Antwort zu geben. Was bejahrt das Leben? Wo könnte Askese nicht Verzicht bedeuten, sondern zu seiner ursprünglichen, vorchristlichen Bedeutung zurückkehren? Einige fanden ihr neues Ziel nicht in einer Einlösung, sondern in einer Form der Immanenz. Das bloße Gefühl des Lebens sollte die Richtung weisen. Sei es als wandernder freier Vogel in den hohen Bergen, sei es im eigenen nackten Körper, der sich aus der schönheits-bedeckenden Kultur orientalischen Ursprungs emanzipieren wollte oder sei es in der Bewegung dieses Körpers in Form von Turnen, Tanzen und anderen sportlichen Aktivitäten für die der gemütliche, Sakko-bedeckte Bürger der Vergangenheit und der Body-Positivist der Gegenwart sich zu gut sind. Disziplin und Selbstbeherrschung sind ohnehin autoritär oder gar faschistisch. Die Bewegung hatte nicht nur ästhetische, sondern auch praktische Ziele. Nicht nur Kallisthenie und Rhythmische Sportgymnastik, sondern auch Krafttraining und Kampfsport wurden praktiziert. Zweitere haben auch den Nutzen, dass sie sich auf echte physische Auseinandersetzungen vorbereiten, was in der politischen Atmosphäre ihrer Entstehungszeit wohl noch wichtiger war. Auch in der heutigen “Fitness culture” gibt es
einen Mikro-Kulturkampf zwischen den “Functional trainers” und den ästhetischen Enthusiasten, wobei Steroide oft ihr Streben ins Hässliche wendet. Man merkt aber den Verlust an kultureller Vitalität in der fehlenden Ernsthaftigkeit der Bestrebung und deren oftmalige bloß sexuell-kommerzielle Orientierung. So wie in der Kunst, sodann auch im Leben:


“Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehenzubleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen warenoberflächlich – aus Tiefe! Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehn haben, die wir von da aus hinabgesehn haben? Sind wir nicht eben darin – Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben
darum – Künstler?”

(Nietzsche, Aphorismus 4, Die fröhliche Wissenschaft)


Der Dichter und Denker Nietzsche führt uns in die nächsten Ebenen dieser Geisteshaltung: Die Literatur und Philosophie. Zwei Männer, die Nietzsche bewunderte und die er als seine wenigen Lehrer ansah, waren Schopenhauer und Goethe. Schopenhauer ist bekannt dafür, den Willen als solchen und in seinen “Objectivationen” als Zentralbegriff in die Philosophie einzuführen. Dieser Wille sei universal, unbändig, chaotisch, zwecklos aber ständig strebsam.


„Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“
(Goethe, Faust 2, 11936 f.)


Diesem “Willen als solchen”, der aber zumeist auch ein “Wille zum Leben” und somit ein Wille zur Erzeugung und Reproduktion war, deutet Nietzsche in einen “Willen zur Macht” um. Dies ist ein Wille zur positiven Tat, der sich seiner Situation bewusst ist. Man betätigt sich trotz oder gerade deswegen, weil sich alles wiederholen wird – man wird durch seine Stärke handeln, ohne dabei eine Glück-Absicht zu haben. Auch Goethe gibt Faust diesen Pessimismus der Stärke. Den ersten Bibelvers will Faust nicht mit “Wort” übersetzen und auch nicht mit “Sinn” oder “Kraft”, sondern er entscheidet sich, dass am Beginn dieser Geschichte stehen soll: “Im Anfang war die Tat!”. Dies ist der Aktivismus, der die Welt ständig wenden will, der rastlos seinen eigenen Zwecken nachgeht. In der Literatur bringen dies einige Autoren der Zwischenkriegszeit zum Ausdruck. Einer davon ist der weniger bekannte Wiener Robert Müller. Illustrativ für den rastlos strebenden faustischen Menschentypus ist der deutsche Ingenieur Hans Brandlberger, der Protagonist von Müllers Werk “Tropen. Der Mythos der Reise.” Diesem treibt der Wunsch nach der Gründung eines Imperiums und der Züchtung einer neuen hybriden Rasse mit den Indianern im tropischen Dschungel. Am Ende töten ihn aber die Indianer und das Projekt der kolonialen expansiven Rassenkreuzung findet sein Ende. Heutige Ableger einer degenerierten Form dieser Lebenshaltung sind die Incels und “Passport-Bros” aus Michel Houellebecqs “Plattform” (2001). Nicht mehr die Gründung eines Imperiums, sondern das bloße Erlangen eines unterwürfigen
Sexualpartners wird zum Ziel des Reisens. Aus dem Kolonialismus wird der Sextourismus. Aus dem Abenteurer der domestizierte Massentouri. Der Literarische Aktivismus ist auch eine pazifistische Bewegung, zeitgenössische Aktivismen des Terrors und der Gewalt wie auch die Putschisten, Geheimbünde, Neo-Mafias und
Männerbünde der Zwischenkriegszeit stehen dieser Variante diametral gegenüber. Sei es Ernst von Salomon in seinem Buch “Die Geächteten” (1930) und in seiner Beteilung an der Ermordung
des Weimarer Kanzler Walter Rathenau durch die Organisation Consul, sei es der Massenmörder und Volksterrorist Andreas Breivik oder der aktivistische Selbstmord des französischen Autors Dominique Venner in der Notre Dame. Der joviale, hedonistische, entdeckende, vielleicht neomanische individualistische Typus des Vitalisten ist stets gefolgt vom aufopferungsbereiten, kampfbereiten und fanatischen Typus. Zweitere tritt nicht als Entdecker, sondern als Fanatiker und Berserker auf. Fememord, politischer (Selbst-)Mord und politischer Terrorismus speisen aus der Verzweiflungen und Voraussetzungen der Zeit: Die Glorifizierung des Krieges, das Heldenhafte Soldatentum und das Töten als Rausch. Der Politische Terror hat nur funktioniert, da die Terroristen auch Verbündete und Dulder in der Geheimpolizei hatten. Die Terroristen besaßen auch selbst soldatische Ausbildung und Disziplin, seit der Schule anerzogen und in der brutalen Praxis erprobt. Die moderne Überwachungstechnik sollte terroristische Akte unmöglich machen können. Wie diese trotz dessen passieren können, ist teilweise schwer nachvollziehbar. Lebensreform, Kunst, Literatur und Philosophie sollten reichen und es sollte möglich sein, den brutalen Aktivismus aus der Politik zu halten. Die kämpferische Spartanität, die scheinbare Illusionslosigkeit des Mannes in anhaltender Kampfbereitschaft und die friedlose, innere Haltung, die sich ständig in einer von Kampf und Spannung erfüllten Wirklichkeit befinden möchte wird dem kriegerischen Typus schlussendlich zum Verhängnis. Kriminalität mag zwar für manche erträglicher sein als Bürgerlichkeit, aber man kann nur auf so viele “Sentimentalitäten” verzichten und sich nur an so viele Umstände anpassen, ohne dabei seine eigene Substanz zu verlieren. Die Schicht der “unbedingten Wirklichkeit”, die man durch den Kampf erreichen möchte, wird nur
augenblicklich halten und dieser Augenblick wird nicht verweilen, sondern im Glück oder Unglück wird man in die andere Welt zurückgeworfen. Die “Entscheidung für die Entschlossenheit” stellt
sich als Formel für einen Nihilismus dar, der sich nur durch ständige Tat von seiner Leere ablenken möchte. Der Aktivist fürchtet die schwache pessimistische Weltflucht und den wirklichkeitsfremden Utopismus, aber in seiner Geisteshaltung bleibt ihm keine Substanz zum Genuss des Lebens und nur sein Beispiel hat die Kraft eine Kultur zu schaffen, die aber nur für andere und nur durch inspirierte Künstler realisiert werden kann. In seiner hedonischen Wende findet sich der Vitalismus heute noch in der intensiven Rockmusik, der psychonautischen Drogenszene und in radikalen Protestbewegungen jeglicher Couleur. Abgeschwächt und fundamental verändert, wahrscheinlich auch wegen des physiologischen Profil eines heutigen Vertreter dieser Lebensbereiche. Sinkenden durchschnittliche Testosteronwerte und die damit einhergehende Passivität und Risikoaversion sind ein zentraler Grund für den allgemeinen Vitalitätsverlust. Vitalitätsreservate finden sich noch in der stolz individualistische Krypto-Szene, die sich souverän und freiheitsliebend abseits von den engen Grenzen des Staatlichen begeben möchte. Standorte und neuer Lebens- und damit Rechtsraum sollen begründet werden. Die Ästhetik des wildwachsenden Dschungels in den Tropen und die Freiheit der Karibik bieten sich an. Wie schon erwähnt gibt es auch heute eine Kultur der physischen Fitness, jedoch hängt diese nicht mehr mit der Lebensrealität der Praktizierenden zusammen, wie noch die Muskelkraft des Bauers und des industriellen Arbeiter intrinsisch mit deren Berufung verbunden war. Künstlich
muss man in die Parallelwelt der körperlichen Verbesserung treten, die so radikal und konträr gegenüber der Lebenswelt des schlaffen Büroarbeiters steht. Mit Vitalismus hält man sich nicht nur körperlich gerade noch über Bord, sondern auch geistig indem man oft kitschige Pseudo-Weltanschauungen aus der Esoterik-Szene betrachten darf. Deren letztgültige Grundlage sind zumeist nur brüchige Grundbausteine einer einheitlichen Weltsicht wie “Körperenergien”, “Vital-Zentren” oder “Vitalpunkte”. Für die libidinal Beschädigten
gibt es auch den Cargo-Kult namens “NoFap”. Die vielleicht gesündeste vitalistische Ecke der heutigen Kultur sind die Reise-Enthusiasten und “Travel-Blogger”, die sich auf hohe See oder abseits der touristischen Wege begeben. Die echte Xenophilie, die ohne die zerstörerisch-globalistische Tendenz des Massentouristen auftritt, ist ein erfrischender Gegensatz. Dem Bedürfnis nach Freiheit folgt das Bedürfnis für Geschwindigkeit. Heute nicht mehr unbedingt in Kampfflugzeugen und Fallschirmjägern, sondern vor allem im Motorsport. Formel 1 gibt ein Beispiel für das Extreme der vitalistischen Tendenz. Ein klares Nein zu allen Geschwindigkeitsbegrenzungen und jeder anhedonischen Klimaneurotik. Die Fahrt ist kein Transport, sondern ein Rausch. Der Vitalist will, dass dieser Rausch nie aufhört, sich steigert, bis er in einem künstlerischen Klimax sich freiwillig sein Ende bereitet.

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